Open Focus-Training für Stress-, Schmerz- und psychosomatische Erkrankungen – Teil 1

von Lester G. Fehmi, Ph.D., Edward T. Kenny, M.D., und Susan B. Shor, L.C.S.W.
Originaltitel: Open Focus Training for Stress, Pain, and Psychosomatic Illness
Kapitel veröffentlicht in Complementary and Integrative Treatments in Psychiatric Practice 2017, 25:293–302
übersetzt von Alexander Lustig, 13. November 2017

Die Welt ist groß und weit. Warum legst Du beim Klang der Glocke Deine Sieben-Streifen-Robe an?
Koan des Zen-Meisters Ummon (Chan-Meister Yúnmén Wényǎn), ca. 862 – 949

Open Focus ist eine Aufmerksamkeits-Trainings-Praxis, die einen Sinn für Verbundenheit fördert, den viele Menschen mit spiritueller Entwicklung in Zusammenhang bringen. Jedoch handelt es sich um eine profane Disziplin, die für die klinische Behandlung physischer und psychischer Symptome vorgesehen ist.

Open Focus gegenüber engem Fokus

Der Begriff Open Focus bezieht sich auf einen Geisteszustand entspannter, zugleich wachsamer Aufmerksamkeit und auf eine Trainingsmethode, die diesen Geisteszustand fördert. Open Focus-Training entwickelt die Fähigkeit, in das Bewusstsein aller gleichzeitig erfahrenen Wahrnehmungen einzutreten, einschließlich der Umweltreize und Empfindungen somatischen oder psychischen Ursprungs.

Der Begriff Fokus bedeutet für gewöhnlich einen eingeschränkten Gebrauch der Aufmerksamkeit für eine eng umschriebene Aktivität, wie etwa das Lösen eines mathematischen Problems, während andere Wahrnehmungen ausgeschlossen werden, oft unter großer Anstrengung. Dieser Typ von Aufmerksamkeit heißt enger Fokus, um ihn von dem Typ zu unterscheiden, der in Open Focus entwickelt wird. Der enge Fokus hat große Vorteile, wie das Ermöglichen effizienter Aufgabenerledigung, nur der hinausgezögerte, exzessive Gebrauch kann zu psychologischem und physischem Stress beitragen und das subjektive Erleben vom Schmerz intensivieren.

Verschiedene subjektive geistige Zustände von Aufmerksamkeit stehen mit messbaren Mustern der Hirnwellenaktivität im Elektroenzephalogramm [EEG] in Beziehung; der enge Fokus tendiert zu einer Beziehung mit Beta-Wellen (13–40 Hz), wogegen die Open Focus-Aufmerksamkeit mit Alpha-Wellen (8–12 Hz) in Beziehung steht.

Viele Personen, die sich dem Open Focus-Training zuwenden, haben psychosomatische Erkrankungen. Wenn sie motiviert werden, regelmäßig zu üben, können sie lernen, ihre Hirnwellenzustände umfassend zu verändern durch die Verwendung von Neurofeedback-Geräten und (verbal) geführte Übungen in bestimmten Methoden von meditativer (multisensorischer) Vorstellung. Das Erreichen von absichtlich veränderten Hirnwellenzuständen ist oft verbunden mit einer Symptomerleichterung und einem gestärkten Sinn von Wohlbefinden. Diese Methoden sind relativ einfach, können von den meisten Menschen erlernt und ohne Weiteres angewendet werden auf einen Bereich von Behandlungs-Settings, entweder als primäre oder als zusätzliche Behandlungsweise.

In diesem Kapitel beschreiben wir die Entwicklung der Open Focus-Methode, verschiedene Aufmerksamkeitszustände, die Anwendung von Open Focus, um Schmerz zu lindern, und eine Open Focus-Übung.

Die Entwicklung von Open Focus und Alpha-Synchronität

Als Fehmi vor etwa 50 Jahren die Hirnwellenzustände und visuelle Wahrnehmung bei Makaken1Primatengattung aus der Familie der Meerkatzenverwandten studierte, entdeckte er, dass die Synchronität, die Synchronisation der elektrischen Vorgänge in einem oder mehreren Hauptarealen des Gehirns, in Beziehung stand mit einer messbar besseren Leistung bei visuellen Aufgaben (Fehmi et al. 1969). Frühe EEG-Untersuchungen von fortgeschrittenen buddhistischen Meditierenden wiesen einen Bereich auf von niederfrequenten Wellen (3–7 Hz) bis zu hochfrequenten Wellen (~40 Hz), bei einer signifikanten Menge an Personen, die im Alpha-Spektrum von 8–12 Hz meditierten (Benson et al. 1990; Kasamatsu und Hiraui 1966).

Fehmi erforschte, ob eine herbeigeführte Synchronität im menschlichen Hirn in einer verbesserten Leistung der Wahrnehmungs- und verarbeitenden Systeme resultieren würde. Dabei versuchte er, Alpha-Frequenzen an allen Standard-Elektroden-Positionen willentlich zu erzeugen unter Verwendung von frühen Neurofeedback-Geräten. In seinen anfänglichen Bemühungen war er erfolglos, Alpha-Synchronität selbst herbeizuführen, einen globalen Zustand des Gehirns, der die gleichzeitige Erzeugung von phasengleichen Alpha-Wellen erforderte. Schließlich entdeckte Fehmi, dass Alpha-Synchronität erreicht werden konnte durch das Fokussieren auf das “Fühlen” [oder “Spüren”] von Raum, sowohl innerhalb als auch außerhalb des Körpers. Unmittelbar und einige Zeit darauf beobachtete er einen gesteigerten Sinn von Wohlbefinden, eine lebendige Aufmerksamkeit, eine Milderung seines Arthroseschmerzes und verbesserte kognitive Funktionen. Klinische Tests seiner Methode zeigten, dass sie die meisten Patientinnen schnell erlernten. Jedoch erreichen nicht alle einen globalen Zustand von Alpha-Synchronität und die mit ihr verbundenen Nutzen. Viele Menschen brechen vorzeitig ab aus Frustration oder Mangel an unmittelbaren Ergebnissen.

Der Lernprozess für Alpha-Synchronität fördert eine Flexibilität der Aufmerksamkeit: die Fähigkeit, bewusst zwischen den verschiedenen Aufmerksamkeitszuständen zu wechseln, die für die jeweiligen Aktivitäten optimal sind. Mit der Übungspraxis wird es für die einzelne Person weniger wahrscheinlich, in irgendeinem Aufmerksamkeitszustand stecken zu bleiben, der mit physischem und mentalem Stress einhergeht.